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Vorwurf II: Freuds Psychoanalyse ist unwissenschaftlich

  • Autorenbild: Lena R. Eigenmann
    Lena R. Eigenmann
  • 7. Okt.
  • 7 Min. Lesezeit

Ich gebe Ihnen recht.

Freuds Theorien genügen nicht den heutigen Kriterien wissenschaftlicher Evidenz. In einem peer-reviewten Blättchen würde er den Penisneid wohl heute nicht publizieren können. Aber seine Theorien sind auch nicht blosse Fantasie, die sich ein jeder gerade mal so hätte ausdenken können. Ein Schlangenölverkäufer ist Freud nämlich nicht – lassen Sie mich das etwas ausführen, bevor Sie nachher wieder weiter Ihren Tagträumen von randomisierten Stichproben nachhängen.

Im Glashaus

Ich gehe mit Ihrem Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit Freuds mit und lege sogar noch einen drauf: Die klinische Psychologie, insbesondere die Störungsdiagnostik ( ICD oder DSM ), schmeisst mit Steinen und schreit: „Psychoanalyse, pfui! Unwissenschaftlich!!“ – und sitzt doch selbst im Glashaus der Scheinwissenschaft. So wirkt die klinische Psychologie auf mich wie der kleine, unbeliebte Bruder der älteren Schwester – der Humanmedizin. Er drängt sich auf die Party der grossen Wissenschaften und man lässt ihn gewähren – nicht, weil er überzeugt, sondern weil man eine gewisse Verwandtschaft nicht ganz leugnen kann und die grosse Schwester nicht brüskieren möchte.

„Scheinwissenschaft?“, denken Sie vielleicht düpiert. Ja, man beruft sich gerne auf Objektivität, Messbarkeit und wissenschaftliche Strenge – und ahmt damit implizit den Habitus der Naturwissenschaften nach, um sich zu legitimieren. Doch die diagnostischen Kategorien in der klinischen Psychologie beispielsweise beruhen nicht auf objektiv messbaren biologischen Markern, sondern auf Symptombeschreibungen, die per Expertenkonsens definiert werden – ohne gesicherte Kausalmodelle. Bis heute gibt es zum Beispiel keinen einzigen klinisch anerkannten Biomarker* für psychische Störungen

*Biomarker = objektiv messbare Grösse im Körper – z. B. ein Laborwert, ein Hormonspiegel oder ein Hirnscan – die Rückschlüsse auf eine Krankheit erlauben soll.

Zurück zu Freud

Seine Theorien und Modelle sind nicht nachweisorientiert – sie sind hermeneutisch: Deutend, nach Sinn suchend. Sie entstanden auf der Grundlage seiner intensiven klinischen Beobachtung und Praxis. Als Arzt behandelte er über Jahrzehnte hinweg zahlreiche Patienten und führte eine Selbstanalyse durch, schloss dann auf die menschliche Psyche im Allgemeinen. Er schien hierbei eine grosse Begabung zur Mustererkennung zu besitzen.

Freud entwickelte nicht einfach eine Theorie über Symptome ( Angst, Narzissmus, Hysterie usw.)

Er entwickelte eine komplette Denkarchitektur: Er erklärte die Psyche nicht punktuell, sondern im Ganzen. Vom Vatermord im Beginn der Zeit, über Traum und Neurose, Konflikte und Triebe, Lust und Liebe, die Frage, was das «Ich» ist. Ob man das für grössenwahnsinnig hält oder für genial, ist Ihnen, lieber Leser, selbst überlassen.


„Also“, werden Sie vielleicht denken, „Freud entwarf Denkmodelle und Theorien. Schön. Aber warum sollten wir auf Modelle zurückgreifen, wenn wir evidenzbasierte, nachgewiesene Forschung haben? Und warum ausgerechnet Freud – aus dem Jahr 1910?“

Weil Modelle und Theorien in der Psychologie unabdingbar sind. Weil „sauberes Messen“ in vielen Fällen schlicht nicht möglich ist. Subjektives Erleben und Verhalten lassen sich nur schwer messen – nicht wie etwa Geschwindigkeit, Masse oder Blutzuckerwerte.


Begriffe wie Angst, Trauma oder Narzissmus, Glück wirken auf den ersten Blick klar – sind sie aber mehrdeutig, je nach Mensch, Kultur, Zeitgeschichte.

Was meinen wir denn genau, wenn wir „Angst“ sagen? Etwas Biologisches? Etwas Gelerntes? Eine unbewusste Abwehr? Ein Gefühl? Ist es eine Reaktion – oder bereits ein Symptom? Beim reinen Beschreiben und Kategorisieren des Phänomens ( z. B. Angst) mag es noch einen gewissen Konsens geben, aber beim warum jemand Angst hat, wozu Angst dient, wieso Angst entsteht und ob und wie sie zu behandeln sei, unterscheiden sich die Theorien massiv – und das ist gut so. Es zeigt, dass es verschiedene Menschen gibt, die die Welt verschieden erklären ( deuten).

Ob man 2025 nun zur Klärung obenstehender Fragen noch Freuds Theorien heranziehen sollte, ist eine andere Debatte.

Maslows Pyramide

Denkmodelle und Theorien kennen und nutzen wir innerhalb der psychologischen Disziplin übrigens rege. Hier einige Müsterchen, die Ihnen vielleicht bekannt sind:

Maslow ( Bedürfnishierarchie),

Erikson ( psychosoziale Entwicklungsstufen),

Rogers ( personenzentriertes Selbstkonzept),

Jung ( Archetypen, Heldenreise),

Adler ( Minderwertigkeitskomplex),

Beck ( kognitives Modell der Depression),

Engels biopsychosoziales Modell,

Lewin mit seiner Feldtheorie – und selbst Grawe mit dem Konsistenzmodell.

Alles wichtige Erkenntnisse, bei denen fehlende Evidenz aber kaum moniert wird.

( Übrigens: Nicht replizierbare sozialpsychologische Experimente – etwa das Stanford-Prison-Experiment, Priming-Studien oder Milgrams Stromschock-Experiment – werden auch nicht wissenschaftlicher, je öfter man sie in Podcasts, Büchern oder Vorlesungen zitiert, um menschliches Verhalten zu erklären.)


Wieso wird also Freud stark kritisiert, während man Maslows Pyramiden jedem Schüler in den Schädel hämmert – ohne „Kritik“, ohne „Einordnung“?

Das hat – aus meiner Sicht – auch sehr nachvollziehbare Gründe:

1. Psychopathologie

Wer erklärt, warum Symptome entstehen, hat Macht. Freud nahm sich diese – und konnte damit auch stigmatisieren. Er beschrieb nicht nur, was ein Symptom ist, sondern auch, woher es kommt – etwa: Hysterie als Folge verdrängter Sexualität, Angst als Reaktion auf ein inneres Verbot, Neurose als Fixierung libidinöser Energie auf ein früheres Entwicklungsstadium. Moderne Ansätze entschärfen das «Woher?», indem sie sich auf multikausale Modelle berufen – und damit alles und nichts zugleich meinen. Bei Freud geht es nicht um praktische Kommunikationstipps für Managementseminare ( „Man kann nicht nicht kommunizieren!“). Psychopathologie – also die Lehre über psychische „Störungen“ – ist ein ethisch heikler Bereich, in dem normiert, klassifiziert und beurteilt wird. Da holt man zurecht die kritischere Brille raus. Die Geschichte der Psychiatrie lehrt uns: Mit Diagnosen, Ätiologie ( dem „Woher?“ und „Warum?“) und Therapien geht Macht, Verantwortung und ein enormes Missbrauchspotenzial einher.

Ein aktuelles Beispiel gefällig? In der ICD-10 galt Transidentität noch als psychische Störung („Geschlechtsidentitätsstörung“). Heute, rund 30 Jahre später, wird sie in der ICD-11 als „Geschlechtsinkongruenz“ im Kapitel Sexuelle Gesundheit geführt und nicht mehr als Störung gesehen – sondern als Ausdruck identitärer Vielfalt.


--> Die Ausgangslage hat sich dabei nicht verändert, nur die Bewertung: Was früher als Symptom galt, als Störung etikettiert wurde, gilt heute als Variante – oder schlicht als Menschsein.

2. Selbstinszenierung

Sie macht ihn – damals wie heute – angreifbar. Freud hat seine Theorien als wissenschaftlichen Zugang vorgestellt, nicht als mögliche daraus ableitbare Modelle. Freud, selbst Arzt, verstand sich als ( Natur-) Wissenschaftler. Seine „Beweisführung“ wurde allerdings schon zu seinen Lebzeiten stark kritisiert ( Gedächtnisprotokoll seiner Sitzungen, zu subjektiv ausgewertete Fallvignetten, keine Systematisierung bei der Aufzeichnung …) . Dass Freud seine Theorie medizin-nah positionierte – inklusive (an die Physik angelehnten) Energiebegriffen und nahezu mechanistischen Erklärungen der Psyche – macht sie ebenfalls angreifbar. Und seine Theorie ist elegant so aufgebaut, dass sie nicht widerlegbar ist. Vereinfacht: Sie lieben Ihre Mutter!

Nein?

Dann verdrängen Sie, dass Sie sie lieben.

3. Sex sells?

Der Streit um die Deutungshoheit von „gesund“ und „krank“ ist, wie bereits erklärt, ein Machtinstrument. Und was Freud sagte, war gefährlich und kränkend für unsere Spezies. Lässt man die berechtigte methodische Kritik beiseite, bleibt: Seine Theorien sind einfach inhaltlich unbequem. Während Maslow, Seligman oder auch Jung dem Menschen schmeichelnde Modelle entwarfen, brachte Freud das, was am meisten kränkt: Er unterstellt dem Menschen nicht nur Kontrollverlust – sondern auch Schuld, Trieb, Lust, Abgründigkeit. Nichts darf mehr bloss nett, vernünftig oder altruistisch sein. Alles wird potenziell aufgeladen: mit Begehren, Eifersucht, Rivalität, Scham, Spannung. Selbst das harmloseste Verhalten wird suspekt, wenn man es mit der freudschen Lupe betrachtet: Der Blick zum Vater. Die Berufswahl. Der Witz. Der Versprecher. Der Traum. Nichts bleibt unverdächtig. Alles ist – in letzter Konsequenz – sexuell kontaminiert. Und das kratzt am Selbstbild. Gerade in Zeiten, in denen man sich lieber als reflektiertes, aufgeklärtes, souveränes Wesen inszeniert. Freud zerstört genau diese Inszenierung. Er sagt: Der Mensch ist nicht einfach ein bisschen emotional. Er ist strukturell widersprüchlich.


Weltbilder

Nachdem ich Sie nun hoffentlich davon überzeugen konnte, dass es in psychologischen Belangen Theorien und Modelle braucht – schon allein, um Komplexität zu reduzieren –, stellt sich für mich nicht so sehr die Frage, welche davon sich durchgesetzt haben, welche Face Validity ( augenscheinliche Plausibilität) aufweisen oder welche freudschen Konzepte heute noch tragfähig sind.


Viel eher interessiert mich: Welche Theorie, welches Weltbild ( welche Ideologie), wählen wir aus, um uns die Psyche, unser Verhalten und Erleben, zu erklären?

Und lassen Sie sich nicht dazu verführen zu sagen:

„Das sei doch völlig klar – Erklärungsansatz XY sei der logischste, naheliegendste.“

Für Sie vielleicht, ja. Für jemand anderen ist XY Unsinn, vereinfacht, abstrakt, esoterisch usw.

Oder Sie sagen: „Ganz einfach. Ich halte mich an die Evidenz, an den wissenschaftlichen Konsens.“ Dann gratuliere ich: Sie haben sich ebenfalls für ein von Ideologie durchdrungenes Weltbild entschieden. Wagen Sie ruhig einen Blick auf den wissenschaftlichen Konsens vergangener Jahrzehnte in der Psychiatrie (Žižek lässt grüssen.)



Žižek und Freud in Wien.
Žižek und Freud in Wien.

Und entdecken Sie dabei, welche Theorien und Methoden Konsens waren – und heute diskret im Kleingedruckten eines Museumsflyers für Psychiatriegeschichte verschwinden.​

Lässt uns also die Idee von Empirie, Laborkitteln und Statistiken gut einschlafen? Befriedigen uns – wörtlich? – Freuds Theorien? Fühlen wir uns bei Rogers verstanden? Bei Jung mystisch aufgehoben? In der Positiven Psychologie ermächtigt?


Erklär mir die Welt

Was uns überzeugt, was uns anspricht, wem und welcher Theorie wir die Kompetenz zusprechen, uns und die Welt zu deuten, verrät oft mehr über unsere Wünsche und Ängste als über die

Gültigkeit der Theorie selbst.

Wer also nach dem „wahren“ Erklärungsmodell sucht, hat wohl schlechte Karten.

Das von uns gewählte Modell sagt vor allem etwas über unser Begehren: Darüber, was wir uns erhoffen, was wir vermeiden wollen, worauf wir lieber nicht so genau schauen – und was wir vom „anderen“ erwarten oder er von uns.

Und natürlich – seien wir nicht naiv –einmal gewählt, werden wir unseren Erklärungsansatz überall in der Welt bestätigt sehen.

Sehen Sie, das liesse sich jetzt wunderbar weiter freudianisch analysieren. Aber nehmen Sie sich in Acht: Wer sich – wie ich – einmal auf die Quacksalber-Theorien des werten Kollegen Sigismund Schlomo Freud einlässt, sieht bald überall nur noch ödipale Komplexe lauern. Penisneiderinnen, wohin man blickt; kastrationsängstliche Jünglinge – und Träume, die kaum entblättert, wahlweise zur Mutter, zum Vater, zu etwas Unanständigem – oder allen dreien zugleich – führen.





Interessante und kritische Links dazu:

Deutsche Aidshilfe. (o. J.). ICD‑11: WHO wertet Trans nicht mehr als „mental gestört“*.  https://www.aidshilfe.de/de/meldung/icd-11

World Health Organization. (n.d.). Gender incongruence and transgender health in the ICD. WHO.  https://www.who.int/standards/classifications/frequently-asked-questions/gender-incongruence-and-transgender-health-in-the-icd

Insel, T. R., & Cuthbert, B. N. (2025). Toward a biologically informed framework for psychiatry. Molecular Psychiatry. 

Lee, Y. Y., Wang, L. J., & Yen, C. F. (2025). Identification of diagnostic and therapeutic biomarkers for attention‑deficit/hyperactivity disorder. Kaohsiung Journal of Medical Sciences, 41(3), 187–196.  https://doi.org/10.1002/kjm2.12931

Kauders, A. D. (2014, 6. März). Psychoanalyse: Warum Zeitgenossen Freuds Lehre kritisierten. Spektrum der Wissenschaft.  https://www.spektrum.de/magazin/psychoanalyse-warum-zeitgenossen-freuds-lehre-kritisierten/1240985


Töpfer, K. (2024, 18. September). Psychoanalyse: Warum Zeitgenossen Freuds Lehre kritisierten. Spektrum der Wissenschaft.  https://www.spektrum.de/magazin/psychoanalyse-warum-zeitgenossen-freuds-lehre-kritisierten/1240985


Wikipedia. (o. J.). Decline and fall of the Freudian Empire. In Wikipedia.  https://en.wikipedia.org/wiki/Decline_and_Fall_of_the_Freudian_Empire


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